Warten auf den Tod
Das Leben fließt an ihr entlang in breitem Strom, gemächlich, spannungslos, schlammiggelb. Wohin es fließt, wer weiß?
Sie liegt im Bett ohne nachzudenken, ganz Gefühl, wie versinkend, versunken im Meer des Lebens, still, antriebslos. Es wird Zeit. Langsam rückt der Zeitpunkt näher…
Nimmt sie Abschied? Nichts als leere Worte! Alles treibt dem Ziel zu, immer schon. Nichts zählt mehr. Die Krankenschwester ist da, lächelt, ist geschäftig. Franz kommt, schaut besorgt, redet, lächelt. Es ist gut so. Es berührt sie nicht, aber es ist gut.
Das war es also.
Es war eigentlich ganz gut so.
Es ging, und es vergeht.
Das war es also.
Franz ist immer noch da.
Die Krankenschwester schaut noch mal rein.
Schlafen, dösen, mehr braucht es nicht.
Das war es also.
Die Sonne scheint, und es ist gut.
Die Tropfflasche wird gewechselt.
Franz geht essen. Er scheint nicht zufrieden zu sein. Was erwartet er von ihr? Muss sie seine Erwartungen erfüllen? Das Leben treibt wie ein altes Holz im Rhein. Wo treibt es hin? Sie fühlt seine Verzweiflung und sie lässt sie bei ihm. Seine Hoffnungen finden keine Stelle an ihr, wo sie anhaften können. Sie treiben vorbei. Franz ist da, er allein, und doch ist sie allein. Und es ist gut so.
Er ist da, und es ist in Ordnung.
Die Sonne geht unter, und es ist in Ordnung.
Als das Telefon klingelte, ging Lisbeth ran. Es war Franz. Was wollte er schon wieder? „Er meint, es ginge vielleicht zu Ende“, sagte sie. „Was bildet der Kerl sich bloß ein! Der Drecksack, er hat sie selbst auf dem Gewissen. Dass sie sich aber auch auf den Kerl eingelassen hat!“ Sie war den Tränen nahe.
Wut stieg in ihm auf. Er wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden. Das ganze Leben hatte er geschuftet, für nichts und wieder nichts, und nicht mal im Alter hatte er seine Ruhe. Der feine Schwiegersohn machte sich alles leicht, hockte bei Maria, tat nichts, und sie musste sich kaputt arbeiten. Typischer Akademiker halt. Er selbst hätte dran glauben sollen!
Wie oft hatte das Leben ihm schon übel mitgespielt, und es wollte nicht aufhören. Jetzt wollte man ihm auch noch die Tochter nehmen?
Er hatte sie ihm längst genommen, sie hatte sich von ihm abgewandt, hatte ihn längst verraten und verlassen. Was glaubte dieser Kerl, wer er war? Er hatte sie gegen ihre eigenen Eltern aufgehetzt, nicht nur sie, auch die Enkel gegen die Großeltern. Bestimmt zog er über sie her, wenn sie nicht da waren. Und man konnte nichts dagegen tun, nur die Faust in der Tasche machen!
Lisbeth weinte ein wenig, dann beruhigte sie sich. Sie wollten sowieso noch zum HIT-Markt einkaufen gehen, bei dem schönen Wetter würde ihnen ein Spaziergang gut tun. So war es auch.
Sie kauften Obst, Fisch und Brot.
Danach aßen sie Matjesfilet in Sahnesauce und Pellkartoffeln.
Und guckten Fernsehen.
„Morgen ist der Todestag von Thea“, sagte Lisbeth, wieder mit Tränen in den Augen. „Die Guten sterben, die Schweine überleben“, meinte er. Seine Gedanken kreisten wie ein Karussell, bevor er endlich einschlief. Schlimmer konnte es nicht kommen.
Hilflos blieb er nach dem Telefonat mit seiner Schwiegermutter zurück. Er konnte das nicht wirklich verstehen. Okay, die Schwiegereltern konnten ihre Gefühle nicht zum Ausdruck bringen. Das war nun mal so.
Und natürlich musste es unheimlich hart für sie sein, ihre Tochter todkrank zu erleben. Doch was heißt schon erleben. Wenn er jemals erfahren sollte, dass es mit seinen Kindern zu Ende gehe, würde er alles daran setzen, sie noch einmal zu sehen. Nach Australien würde er jetten, ans Ende der Welt. Würde alle Mühen, ja selbst Gefahren auf sich nehmen, um sie noch einmal zu sehen. Und die Schwiegereltern? Nichts davon! Gerade dreimal hatten sie sie im letzten halben Jahr gesehen. Und es wäre nicht mehr als eine Stunde Straßenbahnfahrt für sie gewesen.
Und jetzt ging es zu Ende mit ihr, und keine Reaktion! Sie war ihre Tochter!
Er kam sich nun sehr allein vor. Es gab niemanden, mit dem er sprechen konnte.
Es hätte ihn beruhigt, wenn ihm jemand zugehört und Verständnis gehabt hätte. Er brauchte keine Ratschläge, aber ein wenig Verständnis und Wohlwollen hätte ihm gut getan. Wenn man ihm nur zuhörte, da würde ihm schon reichen. Und was sonst konnte er auch erwarten?
Es gab keinen Trost. Aber es gab noch Leben.
Ein neuer Tag. „Guten Morgen, Maria.! Wie geht’s dir denn heute?“
Sie schaute ihn aus großen Augen an, ein leichtes Flackern verriet, dass sie ein wenig unruhig war. „Hallo W.“, flüsterte sie, und das war das einzige, was er an diesem Tag von ihr hörte. Sie wirkte teilnahmslos, als ginge sie alles gar nichts mehr an. Er ging aufgeregt im Zimmer hin und her, wollte etwas sagen, sagte etwas, sah, dass es besser war zu schweigen, und schwieg. Er nahm ihre Hand in seine Hand und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Sah sie ihn an oder sah sie durch ihn hindurch? Täuschte er sich, oder war sie dankbar, dass er bei ihr war? Was war wirklich, und was war seine Interpretation? Er fühlte sich zunehmend hilflos und elend, und, es half alles nichts, er ging zum Fenster und weinte. Er hatte schon immer ungern in Gegenwart anderer geweint, und auch jetzt schaute er dabei aus dem Fenster. Heute war der 5.7., der Todestag von Tante Thea. Würde sie auch sterben, am gleichen Tag? Würde sie wirklich sterben? Das enge Gefühl in der Kehle wollte nicht weichen. Ungehemmt rannen die Tränen. Sicher sah er furchtbar aus, so verquollen! Sah sie ihn von hinten an? Er drehte sich um und siehe da, sie schlief. Was für ein verfluchter Egoist er doch war! Es drehte sich nicht alles um ihn. Da gab es Wichtigeres. Was schert es eine Sterbende, wenn ihr Mann weint? Wie nichtig sind diese kleinen Regungen vor dem Angesicht der Ewigkeit? Ob sie seine Gedanken hörte? Sie atmete schwach, aber regelmäßig. Kein Grund zur Beunruhigung. Er setzte sich an den Tisch und konzentrierte sich auf sie. Ihr Atem leitete sie, er ließ sich darauf ein, er versuchte mitzuschwingen, er tauchte ein in den Rhythmus. Vor seinem Geist erschien sein Schwert, das Schwert aus Feuer, und er drang ein, Kampf den mörderischen Zellen. Die Zeit verrann, zerrann unter seinem Zorn, Schweiß auf der Stirn, Tränen in den Augen. Die Welt schrumpfte auf einen Punkt, einen Kampfplatz. Mehr war nicht da, es brauchte nicht mehr, alles andere schien ihm bedeutungslos. Die letzte Schlacht der Nibelungen…
Die Hoffnung stirbt zuletzt - welche Hoffnung? Der Kampfplatz versank tief unter ihm, wie ein Boxring aus 100 Metern Höhe gefilmt. Ein Stierkampf aus dem Flugzeug beobachtet!
War das sein Kampf? Schattenboxen im Unterbewußtsein, Illusion der Macht. Wer war er, dass er sich zum Herrn über Leben und Tod hochstilisierte? Wie kann man diese Welt verlassen, wenn man sich verklammert fühlt, festgekrallt im großen Wahn eines Menschen, der nicht loslassen kann.
Er riss sich los und ging Kaffee trinken, ein Brötchen essen, zwei, noch einen Schokoriegel, vertraute Normalität in der Cafeteria. Ein ergrautes Paar, das Enkelchen gerade geboren, im Aufzug. Das mitfühlende Gesicht der Krankenschwester. „Warum fahren Sie nicht zwischendurch mal nach Hause“, fragte sie mich. „Sie können jetzt doch nichts tun, kommen Sie später noch mal wieder.“ Die Welt präsentiert sich ihm in Fetzen, wie Wolken im Sturm. Tränennasse Heimfahrt, Blumen gießen, Tee trinken, auf der Couch liegen, Unkraut zupfen, Unruhe, Kloß im Hals, wieder ins Auto, zurück zum Krankenhaus.
Sie schlief immer noch tief und fest, nach der letzten Tränenattacke fühlte er sich ausgelutscht, aber ruhig und abgeklärt. Kein Gefühl, keine Gedanken. Die Zeit verlief still, der Abend kam, nichts rührte sich. Sie lag und schlief, still und friedlich. Vielleicht gab es ja doch noch die Wende zum Guten? Nein, nicht schon wieder. Er weigerte sich, auch nur dem Gedanken Raum zur Entfaltung zu geben, ging lieber den Gang hinunter, 5 Stock abwärts über die Treppe, schnell, körperliche Anstrengung, Konzentration auf der Routine des Lebens, körperliche Bedürfnisse, Abendessen war aus, ein paar Plätzchen stattdessen, Schokolade.
Wieder oben vor der Station kann er sie nicht betreten, von Weinkrämpfen geschüttelt geht er auf die Terrasse, es wird langsam dunkel, er liebt diese Abenddämmerung, er beruhigt sich allmählich.
Im Krankenzimmer ist es still, und plötzlich begreift er: Es ist kein Krankenzimmer, in dem sie so einsam liegt. Es ist das Sterbezimmer. Trotz steigt in ihm auf, noch ist sie nicht tot, oder doch? Nein, nein, sie atmet und strahlt Frieden aus. Sie hat etwas von einem neugeborenen Baby, findet er. Die Krankenschwester bietet ihm Kaffee an, er trinkt eine Tasse, es ist schon 1 Uhr nachts. Geschafft, denkt er, sie hat den 5. Juli überlebt. Übermorgen hat sie Geburtstag.
Er ist müde, die Anspannung der letzten Wochen macht sich bemerkbar, zwingt ihn in die Knie, weniger körperlich, aber sein Geist ist ausgebrannt, irgendwie hohl. Wie ein großes Loch im Inneren des Schädels.
„Warum fahren Sie nicht nach Hause?“, die freundliche Krankenschwester blickt ihn besorgt an. „Oder wollen Sie hier schlafen?“
Das will er nicht, ganz und gar nicht! Er fährt nach Hause und fällt ins Bett. Es existiert keine Welt mehr, nur er und sie, ganz allein. Und Erschöpfung. Morgen würde es weitergehen.
Nach nur vier Stunden Schlaf wird er wieder wach. Ohne weiteres Nachdenken steht er auf, putzt sich die Zähne, wäscht sich und rasiert sich.
Das Telefon klingelt. „Ich muss ihnen leider mitteilen, dass ihre Frau verstorben ist.“